Montag, 19. September 2011

Immanuel Kant und Stanley Cavell

Die Philosophie Kants ist einfach und schwierig. Sie liegt auf der Hand und scheint doch der Alltagserfahrung zu widersprechen. Beim Lesen wächst der Eindruck, der Königsberger Philosoph vermittle kaum zu widerlegende, grundlegende Einsichten. Nach einiger Zeit ohne Beschäftigung mit seinen Werken kann jedoch das Gefühl entstehen, seine Philosophie nur in nebulösen Umrissen zu kennen – oder gar, sie sei nebulös. Die Wiederentdeckung ist immer wieder aufregend. In seinem Buch „Cities of Words“ befasst sich der US-Philosoph Stanley Cavell in einem in mehrfacher Hinsicht interessanten Kapitel mit Kant. Interessant unter anderem, weil er dessen Erkenntnistheorie griffig umreißt und Kants berühmteste Frage einfach erklärt: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“

Wer sich auf die Straße stellt und diese Frage – die den Ausgangspunkt von Kants Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“ bildet –Passanten stellt, wird wohl hauptsächlich Kopfschütteln ernten. Was aber so kompliziert und abgehoben klingt, ist etwas –wie alle gute Philosophie –, was man eigentlich bereits weiß und von Cavell auf einfache Weise in Erinnerung gerufen bekommt: Analytische Urteile stützen sich nicht auf Erfahrung, weil sie etwas aussagen, was in ihrem Gegenstand schon enthalten ist. Etwa: In einem Haus ist Raum.

Die Umkehr dieses Urteils würde einen Widerspruch in sich bedeuten: Ein Haus ist ohne Raum.

Synthetische Urteile fügen dem Gegenstand der Aussage hingegen etwas hinzu, was ihn nicht von vornherein kennzeichnet. Zum Beispiel: Das Haus ist blau. Sie befördern anders als die analytischen eine neue Erkenntnis und sind deshalb für die Metaphysik am wertvollsten. Aber wie ist ein Zugewinn an Erkenntnis möglich, ohne die Erfahrung bemühen zu müssen? Aussagen wie Jedes Ereignis hat eine Ursache oder auch Rechenaufgaben wie 7+5=12 beweisen die Existenz synthetischer Urteile a priori in den Bereichen Physik und Mathematik. Nun gilt es herauszufinden, ob sie auch innerhalb der Metaphysik möglich sind. Eines wird sofort klar: Angebliche Beweise von der Unendlichkeit des Alls, der Unsterblichkeit der Seele oder der Existenz Gottes, die von Kants Berufskollegen vorgetragen wurden, sind keine synthetischen Urteile a priori und damit metaphysische Makulatur…

Ed Lacy oder Post aus Schweden

Zwei große Pakete aus Schweden trafen ein. Denn eine 81-jährige Verwandte löst ihr Ferienhaus in Värmland auf. Nachdem sie über Jahrzehnte jeden Sommer 1000 Kilometer zurücklegte, um zur einsamen Holzhütte mitten im Wald zu gelangen, ist es Zeit für andere Ziele. Die Taschenbuchsammlung mit Krimiklassikern, die in langen schwedischen Winternächten seit 1970 für Unterhaltung sorgten, kamen per Post zu mir.

So Ed Lacys, „Zahlbar in Mord“ in einer Goldmann-Ausgabe. Ed Lacy veröffentlichte den Roman unter dem Titel „Enter without Desire“ im Jahr 1954. Er starb 1968 mit 56 Jahren an einem Herzinfarkt.

Ein seltsames Werk. Beginnend mit einem Prolog in Kursiv, der mich das Buch erst einmal im Gefühl zur Seite legen ließ, ich hätte einen X- beliebigen „Groschenkrimi“ in Händen. Ein großer Irrtum. Obwohl das Intro auf lediglich einer Seite die Mordabsichten des Ich-Erzählers schildert, stellt sich danach bald die Frage, ob man es hier überhaupt mit einem Krimi zu tun hat. Erzählt wird die Geschichte eines erfolglosen Bildhauers, der sich in eine einsame Hütte zurückzieht und bei eisiger Kälte den letzten Tag des Jahres erlebt. Seine niederschmetternde Situation verleitet Marsh Jameson zum Ausbruchsversuch gen New York: Ein junger Erfolgsmensch nimmt ihn per Anhalter mit und der Held gerät in eine Wissensshow a la „Wer wird Millionär“. Die gab es also auch schon in der amerikanischen Nachkriegszeit und wenn man den Schilderungen folgt, weitaus phantasievoller als die heute populären Urenkel des Formats.

Marsh Jameson muss sich beim Gewinnspiel mit einer wildfremden Partnerin zusammentun und damit gerät sein Leben in eine neue Umlaufbahn. Mit vereinten Kräften raten sich die beiden zum Hauptgewinn und verlieben sich. Das Geld reicht allerdings nicht bis zur Rente, sondern beschert nur einige materiell sorgenfreie Monate, in denen das Verhängnis seinen Lauf nimmt.

Ed Lacys Roman besitzt eine eigenwillige Architektur. Er häutet sich wie eine Zwiebel: Hat man sich in eine Welt eingelesen, taucht überraschend eine neue auf. In größeren Abständen sind kurze, kursiv gedruckte Passagen eingestreut, die von der Planung und Durchführung eines Gewaltverbrechens berichten und die Neugierde anheizen. In diesen Passagen spielt sich gewissermaßen die Gegenwart des Romans ab. Die größeren Erzähllinien berichten von ihrer Vorgeschichte, ihren Ursachen. Über die Folgen erfährt der Leser zum Schluss wieder im kursiven Epilog.

Die Vorgeschichte beginnt also beim fröstelnden Bildhauer, der unverhofft zu Liebe und Geld kommt. Sie hat allerdings ebenfalls eine Vorgeschichte. Die schweren Jugendjahre des Helden, seine Erlebnisse in Europa während der Kriegs- und Nachkriegszeit, sowie seine späteren Versuche, sich als Werbegraphiker in New York durchzuschlagen, werden so ausführlich berichtet, als habe ein neuer Roman begonnen. In Paris erlernt Marsh Jameson auf skurrile Weise die Bildhauerei von einem Altmeister – es wird sich noch auszahlen, dass er diese Kunst gegen alle Wiederstände beharrlich verfolgt. Die Beschreibungen des New Yorker Agenturbetriebs in den 30er Jahren wirken echt empfunden und sind unterhaltsam.

Allmählich nähern wir uns wieder der Geschichte, die auf den Quizgewinn folgt: Marsh lebt mit Quizpartnerin Elma in einem Haus am Meer und die innige Liebe der beiden scheint unverbrüchlich. Marsh vergöttert seine Geliebte, ist großherzig und verkörpert eine Art idealistische Leidenschaftlichkeit. Von Elma lasst sich ähnliches sagen. Doch es ziehen Probleme herauf.

Dass der Leser einen Krimi in der Hand hält, erfährt er wie gesagt lange Zeit nur durch die kurzen Zwischentexte. Und lange verwirrt es, den sympathischen Helden hier mit einer Waffe in der Hand zu erleben. Ed Lacy gelingt der Spagat: Die Haupthandlung nähert sich melodramatisch dem Verbrechen, dessen tragikkomischer Verlauf durch die vorgreifenden Einsprengsel schon lange vorher bekannt ist. Die Liebesidylle gerät in Gefahr, weil Elma von ihrem Ex-Mann geschwängert wurde, bevor sie Marsh kennenlernte. Das wäre noch kein Problem, im Gegenteil – der Bildhauer freut sich unbändig, ein Vater für Elmas Kind zu sein. Aber gesellschaftliche und politische Zwänge entfalten eine verhängnisvolle Wirkung. Beide Partner treffen einsame Entscheidungen, die ihr so felsenfest geglaubtes Glück in den Abgrund treibt.

Ed Lacys Plot ist unglaubwürdig und glaubwürdig zugleich. Alltägliche Sorgen, Hoffnungen und Alltagsbeschreiungen wechseln mit märchenhaften Wendungen, die die Geschichte voranbringen. Manche Episoden scheinen dem Bedürfnis des Autors geschuldet, in der Verpackung eines Krimis sein Leben zu erzählen. Doch das macht er gut und findet die dramatische Kurve. Über die Wandlung des Helden vom liebenswerten Künstler zum Mörder lässt sich streiten. Ein größerer Roman hätte sie besser gelöst. Aber Lacys Können reicht aus, um die Ereignisse zu akzeptieren.

Ein guter Krimi mit Schwächen, die ihren Sinn haben – sie machen ihn authentisch und originell.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Menü

Kle
Bilderalben:

twoday.net

Aktuelle Beiträge

Welt aus doppelten Böden
Wer sich für Literatur oder Filme interessiert, sollte...
leichtenstein - 1. Okt, 19:01
Die schlimmsten Fragen
Immanuel Kant und Stanley Cavell berühren einige der...
leichtenstein - 26. Sep, 19:09
Kants Imperativ und Cavells...
In Stanley Cavells Gedankenwelt einzutauchen, löst...
leichtenstein - 21. Sep, 19:16
Immanuel Kant und Stanley...
Die Philosophie Kants ist einfach und schwierig. Sie...
leichtenstein - 19. Sep, 19:24
Ed Lacy oder Post aus...
Zwei große Pakete aus Schweden trafen ein. Denn eine...
leichtenstein - 19. Sep, 13:14

Links

Suche

 

Status

Online seit 5439 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 1. Okt, 19:01

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren

kostenloser Counter
Poker Blog